Einleitung

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Caspar Decurtins

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Rätoromanische chrestomathie IX Volkslieder


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Einleitung.

Wenn die Volksseele sich nirgends so scharf ausprägt wie in Sage und Lied, Märchen und Kinderspruch, so sind wir froh überzeugt, mit diesem Bande unseres Sammelwerkes ein wertvolles Stück des ureigenen rätoromanischen Volkstums bieten zu können.

Wie bei jedem gesunden Volke nimmt auch an den Ufern des Inns das Liebeslied einen ausgedehnten Raum ein, sowohl das ernste Lied von Treue und Untreue, als der leichte Sang jugendlichen Übermutes.

Im Banne des traditionellen Bildes, in dem die Jugend ein blühender Garten ist, begrüsst auch das ladinische Volkslied die Geliebte als weisse Rose, als rote Nelke, als Lilie in Ehren und wird nicht müde, die treue Liebe immer wieder zu preisen. Nicht ohne leise Schalkheit und zarte Schicklichkeit weiss das Lied, wo es vom Liebesapfel spricht, goldene Hoffnungen vorzuzaubern. Aber auch der schrille Ton gebrochener Treue tönt erschütternd durch manches Lied: die Sonne verfinstert sich, der Mond kleidet sich in Trauer, die Sterne fallen und die Wasser stehen still ob der bösen Tat der Untreue. Und hier klagt eine Maid, die einem Ungeliebten die Hand reichen muss, ihr heimlich Herzeleid; sie kann nimmer lustig sein, sonst bräch’ihr das wunde Herz entzwei, noch darf sie klagen, was sie drückt, sonst wär’es für den Bräutigam ein zu grosser Schmerz. Dort aber begegnen wir dem entschlossenen Mädchen, das trotz allen Zwanges den hässlichen Alten zurückweist; und wir begegnen dem Burschen, der vor die Wahl gestellt ist, der unschönen Reichen oder der hübschen Armen die Hand zu reichen, aber das klare Wasser aus dem Quell dem herben Wein aus dem geschliffenen Glase vorzieht.

Aus einer Zeit stammend, da man feierlichen Worten eine geheimnisvolle Kraft beimass, also wohl ursprünglich ein Wunsch- und Zaubersang ist jenes Lied, das vom Knechte erzählt, der mit der Sonne aufsteht, um die Geliebte zu gewinnen, die sich nacheinander in eine Rose, ein Körnlein, eine Gemse, einen Engel verwandelt, aber vom Geliebten in den gleichen Gestalten allüberallhin verfolgt und endlich gewonnen wird. Es [p. vi modifica] ist jene alte Weise, die von Volk zu Volk wandert und in der Fassung des Magali - Liedes in Mireio wohl am bekanntesten geworden ist. Mit dem Liebeslied berührt sich das bei den Engadinern so gepflegte Lied vom Scheiden und Meiden; es schildert uns den tiefen Schmerz, den die Trennung vom geliebten Tale bereitet. Wohl wenige Abschiedslieder können sich an Tiefe der Empfindung und dichterischem Ausdruck mit dem Liede vergleichen, in dem der Jüngling beim Morgengrauen von jedem, der ihn sieht, Abschied nimmt und aus dem Geläute heraushört, wie die Glocken alle mit ihm klagend klingen, mit ihm, der dann entschlossen … seinen herben Schmerz hineinwirft in des Bergsees Tiefe. Ein glücklicher Fund (Ms. Pont.) macht es uns möglich, den Einfluss des italienischen Liebesliedes des 16. und 17. Jahrhunderts auf das ladinische Volkslied zu verfolgen.

Ein Pflanzgarten des Volksliedes war die Spinnstube (tramelg); die Spinnerinnen und die Burschen liebten es, ein Lied anzustimmen und einmal angefangen, wurde das Füllhorn bekannter Volkslieder von der sangesfrohen Dorfjugend mehr oder weniger ausgepflückt und wohl auch gelegentlich bereichert. Wie sich Zeiten und Sitten, Trachten und Waffen änderten, zeigten sich die Spuren der kulturellen Entwickelung auch an den Liedern. Aber die Balladen, die besten Liebeslieder, die Spott- und Rügelieder haben sich erhalten, seit den Tagen, wo Campell gegen sie als schändliche Lieder eiferte. Gerade die ältesten Lieder finden sich in allen rätoromanischen Mundarten, finden sich in fast gleichem Gewande an den Quellen des Rheins wie im Engadin, was Gaston Paris in seiner Besprechung der Sammlung von Flugi mit dem ihm eigenen divinatorischen Blick richtig erkannt hat.

Es gab immer Männer und Frauen, meistens solche, die selbst neue Worte und Weisen fanden, die eine grosse Anzahl von Gesängen aus dem Gedächtnis vortragen konnten; auch die Blinden und Armen, die, Almosen heischend, von Dorf zu Dorf zogen, waren häufig Träger und Verbreiter der Lieder. Wenn das Volk öfter ein Lied, das ihm zu lang war, kürzte, so wollten diese Sänger nicht selten die Lieder verlängern und ausschmücken, nahmen auf ganz willkürliche Weise einzelne Strophen von einem Lied in das andere herüber, ja verknüpften auf sinnlose Art Lied mit Lied.

Fragen wir nach dem Ursprung der Volkslieder, so finden wir nur wenige Andeutungen. Während Ton und Haltung einiger Lieder auf Frauengemüt und Frauenmund hinweisen, bekennt sich „ein junger Mann, der Federn am Hute trägt“, „ein schmucker Bursche“, „einer der imstande ist, über die ganze Welt dahinzuspringen“, als Verfasser eines Liedes. [p. vii modifica]

Wenn sich im Engadin die Volkslieder so lang erhalten haben und, wenn auch zu sehr später Stunde gesammelt, noch eine reiche und schöne Ausbeute gewährten, so hängt das damit zusammen, dass das Engadinervolk bis tief in das 19. Jahrhundert hinein eine moralische Einheit bildete und dass weder Geburt und Reichtum, noch Bildung einen Gegensatz zwischen Volk und Herren, zwischen Gebildeten und Ungebildeten aufklaffen liess. Seit dem Ausgang des Mittelalters und der Bildung der Bünde waren die Sonderrechte des Adels verschwunden. Und wenn der Adel trotzdem grossen Einfluss besass und ihn durch Jahrhunderte behauptete, so waren die führenden Aristokraten immer sorglich bestrebt, das Selbstbewusstsein des souveränen Volkes nicht zu verletzen. Sorgten ja die blutigen Strafgerichte dafür, dass das alte rätische Gebet: „Gott bewahr uns vor des Volkes Zorn!“nicht leicht vergessen werden konnte!

Die Familien, die sich im Fremdland Vermögen erworben hatten, kehrten später alle in die Heimat zurück und hüteten sich ängstlich, die Bande mit den Volksgenossen zu lockern.

Die Pfarrer, die in Zürich, Genf und Basel ihre Bildung geholt — und sie war bei einigen derselben eine nicht unbedeutende — wie die Juristen, die in Paris und Padua studiert hatten, mussten, wenn sie wirken wollten, die Sprache des Volkes reden. Männer wie Martinus ex Martinis und sein Sohn Johannes, der Staatsmann und Krieger Gioerin Wiezel, um nur diese charakteristischen Vertreter zu nennen, haben gezeigt, wie sie in ihren Liedern den Volkston ausgezeichnet zu treffen verstanden.

Niemand ragte aus dem Volke heraus und niemand sank unter dasselbe hinab: man spielte dasselbe Spiel, beteiligte sich am nämlichen Tanz und die gleichen Balladen und Liebeslieder ertönten im Herrenhaus und in der Bauernstube. Zweifellos hat der originelle, scharf ausgeprägte Volkscharakter mitgeholfen, das Fremde fernzuhalten und das Eigene zu pflegen.

Heute zeigt sich die Einwirkung der Schule, der Kaserne und eines hochentwickelten Fremdenverkehrs immer stärker und die eigene, von den Vätern ererbte ladinische Kultur — wir dürfen hier das Wort Kultur wirklich gebrauchen — verschwindet langsam, um einer neuen, internationalen Gesittung Platz zu machen; und so manches Lied wird mit dem letzten Sänger und der alten Sängerin auf den stillen Friedhof getragen.

Nur jene Lieder, die dem Sinnen und Fühlen der Volksseele Ausdruck liehen und darum im Volke ein so treues, kräftiges Echo fanden, rechnen wir zu den Volksliedern. Darum schlossen wir von der Sammlung alle jene Lieder aus, die das Gepräge des Gemachten an sich tragen und zumeist kurzlebig waren. Wir geben ja gerne zu, dass die Scheidelinie [p. viii modifica]hier nicht selten schwer zu ziehen ist und es mag sein, dass dieses oder jenes Lied aufgenommen wurde, das kein Volkslied im strengen Sinne ist, obwohl wir bestrebt waren, nach dem oben angegebenen Gesichtspunkt aufzunehmen und auszuscheiden, weshalb wir auch eine grössere Anzahl Lieder, die in früheren Sammlungen als Volkslieder aufgenommen wurden, fallen liessen. Fragt der freundliche Leser nach dem Eigenen und Charakteristischen am ladinischen Volkslied, so wollen wir eine kurze Antwort zu geben versuchen. Der Charakter der Rätoromanen, die an der Wasser- und Völkerscheide sich erhalten haben — ein Purpurstück des römischen Kaisermantels neben dem germanischen Speer — hat im Volksliede deutsche Gemütstiefe mit dem lateinischen Sinn für Mass und Schönheit zu verbinden gestrebt, so dass das romanische Volkslied zwei Vorzüge aufweist: tiefes Gefühl und harmonische, vornehme Form. Gerade bei den Liebesliedern, wo dem Spotte sein Recht wird und heikle Situationen zur Sprache kommen, zeigt sich ein ausgesprochener Sinn für das Schöne und Schickliche.

Aus den historischen Liedern spricht die Eigenart des rätoromanischen Volkes, das Selbstbewusstsein und trotzige Kraftgefühl, das den Männern der III Bünde eigen war, das auf dem ruhmreichen Schlachtfelde der Kalvenklause, wie auf Italiens Blachfeldern gewachsen war und die blutigen Befreiungskämpfe gegen Baldirons Scharen zu Ende führen liess. Die grosse, ruhmreiche Geschichte, die noch aus den Briefen des Peter Planta, aus den selbstbewussten Worten über die Vereinigung mit der jungen Eidgenossenschaft herausklingt, erklärt uns den starken Zug, der die rätischen Fahnen und das rätische Lied bewegte.

Wenn Flugi meint, die puritanische Richtung der Reformation im Engadin hätte den alten Volksliedern, die verpönt wurden, das Los der Vergessenheit zugeteilt, so wird diese Meinung durch die Zusammen- und Gegenüberstellung sämtlicher rätoromanischen Volkslieder nicht bestätigt. Gerade die besten erzählenden Lieder des katholischen Oberlandes finden sich auch im Engadin, die ältesten Liebeslieder finden sich in surselvischen und ladinischen Versionen, so dass der Einfluss der Reformation auf das Volkslied als ein sehr geringer zu bezeichnen ist.

Zu den ältesten Volksliedern gehören jene, die ursprünglich bei Kultushandlungen gesungen wurden; sie verherrlichen Erscheinungen und Kräfte der Natur, die als persönliche Wesen aufgefasst und verehrt wurden. Die Feier des beginnenden Lenzes, des wiedererwachten Vegetationsdämons stand auch im Inntal im ungeschriebenen Kalender des Volkes. Wie aus einem Kinderspruche „mantinada“aus dem Bergell erhellt, ward der Einzug der wärmeren Jahreszeit und das Erwachen der Vegetation mit Spiel [p. ix modifica] und Tanz, ursprünglich wohl mit Gesang und Tanz gefeiert. Wir vermuten, jene Feier sei die eigentliche mantinada gewesen und jene mantinada, die später in einzelnen Gemeinden des Vorderrheintales aufgeführt wurde und das damit zusammenhängende Spiel vom Austreiben der Fastnacht sei eine Übertragung der ursprünglichen Frühlingsfeier auf die Fastnacht. So gehört jenes Frühlingsliedchen, das die Kinder in verschiedenen engadinischen Gemeinden vor den Häusern sangen, um sich eine freundliche Gabe zu ersingen, zu den ältesten Denkmälern der rätoromanischen Poesie.

Weit zurück in graue Zeit reicht auch das St. Margaretalied, das vom Ende des goldenen Zeitalters in den Alpen erzählt und das Pfarrer Mohr noch im hochgelegenen Remüs gehört hat. Es hat das Lied die älteste Fassung der Margaretalegende zur Voraussetzung.

Zum ursprünglichen Bestand der rätoromanischen Volkslieder gehören offenbar jene Lieder, welche zum Tanze gesungen wurden und nach deren Weise getanzt wurde. Der feierliche Reigentanz wurde, wie wir aus einzelnen surselvischen Märchen ersehen, auf grünem Felde aufgeführt. Die Jugend versammelte sich im Engadin wie im Oberland während des Mittelalters zu Spiel und Tanz auf offenem Felde. Campell hat uns den Anfang eines alten Liedes, eine Aufforderung zum Tanz, überliefert:

„Strada commüna ad yra sullatzar“.

Neben dem Reigenlied Nr. 84 verweisen wir auf das eigentümliche Lied vom Fischer; es ist ein altes Erbstück der rätoromanischen Hochzeitsfeier, das nicht wie die ursprünglichen Hochzeitsreden der herben Sittenpolizei der jungen Reformation weichen musste, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Tanzlied.

Aus den engadinischen Schauspielen, die allerdings zumeist Übersetzungen sind, erhellt, wie das Lied in enger Beziehung zum Tanze stand; da begegnen wir Wendungen wie: „Wir tanzen nicht nach deinem Liede“, „nach eigenem Liede tanzen“. Zu den ältesten Liedern der Rätoromanen gehören die Spottlieder. Es sind uns einige solche aus dem Unterengadin erhalten, die, wie aus dem urwüchsigen Ton, den derben Kraftsprüchen und altertümlichen Bildern, wie boscha grischa, ersichtlich ist, ins Mittelalter zurückgehen.

Von den Tierfabeln, die uns in den dichten Wald zurückführen, wo der Mensch noch in inniger Beziehung zu den Tieren stand, hat sich nur ein karges Bruchstück erhalten; es ist das im Engadin wie im Oberland gesungene Lied von der Liebe der Heuschrecke und der Ameise. Im Engadin wie im Oberland finden sich noch Spuren des Liedes von der Tierhochzeit. [p. x modifica]

Zum ältesten Bestandteil unseres Liederschatzes kann auch das Streitlied zwischen Wein und Wasser gezählt werden, das uns Campell aufbewahrt hat und das sicher ein paar Jahrhunderte älter ist, als Campells Aufzeichnung, der offenbar alles weggelassen hat, was an den alten Glauben erinnerte.

An verschiedenen Stellen haben wir uraltes Erbgut unserer Volkspoesie, von einer allzu klugen und kalten Zeit in die Rumpelkammer des Kinderliedes verwiesen, an den alten Ehrenplatz gestellt, den es früher im religiösen und sozialen Leben einnahm.

Ähnlich dem Märchen geht der Stoff der Balladen von Land zu Land, von Volk zu Volk; in der Behandlung des nämlichen Erzählungsstoffes bei den verschiedenen Völkern spiegelt sich die nationale Eigenart wieder, die den Liedern den eigentlichen Charakter verleiht. Echt rätisch ist jenes Lied, das uns von den treuen Lieben erzählt, die nicht voneinander lassen und die, wenn sie im Leben getrennt waren, im Tode vereint werden. In der verstümmelten Gestalt, wie das Lied „o mama chara“uns im Ladinischen und Surselvischen überliefert wird, ist dasselbe ziemlich unverständlich. Offenbar bedeutet der Trunk, der sonst ganz unmotiviert wäre, einen Verlobungstrunk oder einen Trunk zum Zeichen geschlossener Ehe. Noch das statutum synodale Andegavense erwähnt die falsche Meinung, die Ehe werde abgeschlossen, indem die Brautleute gemeinsam aus einem Glase Wein trinken; und Polydorus Virgilius erzählt: „Sponsa apud Anglos postquam benedixerit sacerdos in templo, incipit bibere, sponso et reliquis adstantibus idem mox facientibus“. Wir denken uns, das Lied erzählte ursprünglich, wie der Geliebte in dem Augenblick ankommt, da die Braut einem anderen angetraut wird; ob des traurigen Wiedersehens sterben beide gebrochenen Herzens und werden nebeneinander begraben und aus ihrem Grabe wachsen Blumen, die sich umschlingen, „weil die beiden einander so lieb gehabt“. Die oberländische Form steht dem Original näher als die ladinische; dort haben sich noch die rote Rose und die weisse Lilie erhalten, während sie, wohl um des Reimes willen, in der ladinischen Form durch die Kamillenblüte und die Muskatnuss ersetzt werden.

Ladinisch hat sich auch eine alte Form des Liedes: „O bab, bab“erhalten; hier ist es noch das Schlossfräulein, von dem berichtet wird, wie es von Knechten und Mägden Abschied nimmt, ehe sie gezwungen heiratet und dem ungeliebten Manne die Hand reicht. Die Vermutung, die wir in unserer Vorrede zu den oberländischen Volksliedern ausgesprochen haben, das Lied gehe in das Mittelalter zurück, scheint somit begründet zu sein; wir haben hier eine Gestalt des Liedes vor uns, wo [p. xi modifica] das Volk noch offenbar an das Schlossfräulein denkt; die folgende Variante weiss nichts mehr von Schloss und Fräulein; das Lied meldet von der Dorfmaid, die von den Gespielinnen Abschied nimmt, nicht von Knechten und Mägden. In diesem Liede hat der Balladenstoff eine ganz rätische Gestalt angenommen und die rätoromanische Version darf sich dem gleichen Liede bei anderen Völkern an die Seite stellen. Dramatisch bewegt führt uns das Lied mitten in die Handlung; wie lebendig und ergreifend ist das Widerstreben der Braut geschildert! Eine ahnungsvolle, trübe Stimmung ruht über dem Liede der Treue, welche Tod und Grab überdauert. Auch bei den Rätoromanen können die Seelen der Liebenden, die in die Blumen übergegangen sind, welche das Grab schmücken, nicht voneinander lassen. Die symbolischen Pflanzen, in welche die Seelen der Liebenden übergehen, wechseln bei den verschiedenen Völkern. In den portugisischen Romanzen finden sich bald die Cypresse und der Orangenbaum, bald ein düsterer Fichtenwald über dem Grabe des Ritters, über dem der Jungfrau ein trauriges Rohrfeld; bei den Serben sind es Rosen und Kiefer, bei den Rumänen zwei Tannen, im griechischen Volksliede eine Cypresse und ein Schilfrohr, bei den Ungarn Rosmarin und Lilie, bei den Schotten Rose und Birke, bei den Wenden zwei Reben, bei den Bulgaren Pappel und Tanne.

Zu den ältesten Balladen gehört jene, die von den drei Kameraden erzählt, die zur Jakobsbrücke gingen, offenbar zur Brücke an der grossen Pilgerstrasse, die nach St. Jacob in Gallizien führte. Sie kehrten in eine Wirtschaft ein; der Jüngste verliebte sich in des Wirtes Tochter, die ihm ihre Liebe schenkte und sich mit ihm verlobte; der Glückliche rühmte sich bei den Genossen seines Erfolges; aber der Wirt vernahm es und fuhr ihn hart an: „O du Schelm, was gab sie dir zum Pfand?“— „Einen goldenen Gurt und zwei schöne goldene Ringe,“war die Antwort. Aus Rache verklagte der Wirt den Jüngling, er habe die Tochter behext. Das Lied denkt wohl an Liebeszauber. Der Landammann und die Geschworenen richteten ihn als einen Hexenmeister. Ehe der Todesstreich fiel, forderte der Jüngling die Henne auf, ihn zu rächen und diese nahm so Rache, dass das Blut auf die Strasse floss. Der als Pfand gegebene goldene Gurt lässt auf ein hohes Alter des Liedes schliessen; nicht an den wilden Waldvogel, sondern an die häusliche Henne richtet sich die Bitte des Sterbenden, dafür besorgt zu sein, dass die Seinen ihn rächen und diese erfüllen die Pflicht der Sippe in blutiger Weise.

Unter den Liedern, die von dem heimkehrenden Gatten erzählen, finden wir ein eigenes und fremdes; eine Übertragung aus dem Italienischen ist das Lied: „Chantè, chantè Lisetta.“Das Original, das Professor [p. xii modifica]Alessandro d’Ancona in Ripafratta gefunden und Nigra mitgeteilt, gibt dieser in seinen: Canti popolari del Piemonte1.

Wie bei den Märchen, so ist es auch bei den Balladen sehr schwer, Eigenes vom Übersetzten auszuscheiden. So war es uns bei einem von Flugi gegebenen Volksliede: „Ad eir üna giuvna sün ün marchio“immer aufgefallen, dass die verlassene Tochter bekennt, sie sei vom treulosen Geliebten verlassen worden, weil ihr Vater ein Hirte, ein Gemeindediener gewesen sei. Der Hirtenstand wurde bei den Rätoromanen nie als ein niedriger Stand angesehen, sondern war dem Bauernstand vollkommen ebenbürtig. In der Version, die Vital gibt, wird der Hirt dem Edelmanne, der eine goldene Kette trägt, gegenübergestellt; dieser Gegensatz zwischen Hirt und Edelmann ist für das Engadin noch unwahrscheinlicher. Der ganz nationale Schluss, nämlich die Berufung auf die schöne Ebene von „las Agnias“, die alte Richtstätte des Engadins, hatten aber unseren Verdacht als einen unbegründeten erscheinen lassen. Zum Glück aber hat sich bei Vital der ursprüngliche Schluss erhalten: „Dieses Lied, das ihr gehört habt, ist gerade hier ohne Schwierigkeit übersetzt worden. Und der es zuerst gesungen hat, der war ein Mann, der schon verheiratet war. Ich nenne ihn nicht, aber ich halte ihn für einen Ehrenmann.“Nach Ton und Haltung glauben wir, die Übersetzung in das 17. Jahrhundert verlegen zu müssen. Aus dem Deutschen übersetzt, erklärt sich die Gegenüberstellung des Hirten und Edelmannes.

Der Einfluss des französischen Liedes auf unser romanisches ist unbestreitbar; weiss doch sogar das surselvische Kinderlied vom Burschen zu erzählen, der nach Frankreich ging, um für den König die Lanze zu führen. Und Campell bezeugt durch ein aufbewahrtes Bruchstück eines Volksliedes, wie schon im 16. Jahrhundert der Engadiner ein französischer Söldner wurde, der vom König als vom „guten Vater“die ausgeteilten Sonnenkronen in Empfang nimmt. So ist das Lied von den drei jungen Tambouren mit dem Refrain: „Ran, ran, rataplan“auf das Original zurückzuführen, das uns Graf de Puymaigre in seiner Sammlung von Volksliedern aus Lothringen aufbewahrt hat und das sich in verschiedenen Varianten in ganz Frankreich2, bei den Piemontesen3 und Katalanen4 [p. xiii modifica] verfolgen lässt; man könnte aus demselben den fehlenden Schluss des romanischen Liedes rekonstruieren, wo der Trommler die Königstochter verschmäht.

Bei einigen gerade von den älteren Liedern fehlt der Schluss; so in einer älteren Fassung des Malbruchliedes. Bemerkenswert an dem Liede ist, dass hier der schöne Fürst und König von Holland die Stelle Malbruchs einnimmt. Das Lied von dem König, dessen Tod vom schwarzgekleideten Diener der Fürstin gemeldet wird, repräsentiert die älteste Form des Malbruchliedes.

Der Schluss fehlt auch beim Liede vom Fähndrich, wo der Baron und seine Tochter in Chur, der Stadt, an die Stelle der Königstochter und des Königs von Frankreich getreten sind. Dass die jetzige Fassung aus vorreformatorischer Zeit stammt, glauben wir aus der Erwähnung des „Kilbitanzes“schliessen zu dürfen, zu dem auch die Knabenschaft von Frankreich erscheint.

Bei einem Volke, das seit Jahrhunderten über sein Schicksal entschieden hat und bei dem der Krieg ein Volkskrieg im eigentlichen Sinne des Wortes war, mussten die geschichtlichen Vorgänge tiefe Spuren im Volksliede zurücklassen. Campell hat uns, wenn auch leider nicht die vollständigen Lieder, so doch einzelne Bruchstücke aufbewahrt, aus welchen wir Schlüsse auf den Charakter dieser Lieder ziehen können.

Es sind epische Gesänge, bei denen, wie bei jeder echt volkstümlichen Epik, Rede und Gegenrede der Helden einen breiten Raum einnehmen.

Ähnlich wie bei den Serben und Montenegrern, waren auch bei uns die von einem, „der dabei gewesen“, gesungenen Schlachtlieder wirkliche Volkslieder. Das letzte Lied dieser Art ist das S. 185 — 190 abgedruckte Lied vom Kampfe mit den Österreichern aus dem Jahre 1623; hieher gehört auch das Lied vom Müsserkriege, von Johann Travers niedergeschrieben, das so das älteste Denkmal unserer Literatur wurde. Wäre das nicht der Fall gewesen, so würde niemand im Verfasser den gewaltigen Staatsmann und gelehrten Humanisten, den Freund des Simon Lemnius vermuten, so echt volkstümlich ist diese Antwort auf ein Schandlied, das im Bergell gesungen wurde.

In den wildbewegten Tagen, wo die Grossmächte um die rätischen Pässe stritten und die Religionskämpfe in den rätischen Tälern wüteten, wurde die öffentliche Meinung im Liede bearbeitet, der Gegner angegriffen, mit Hohn und Spott überschüttet und das Lob der eigenen Partei gesungen. Wenn das surselvische Lied auf Jörg Jenatsch offenbar die Rache des rätischen Diktators fürchtet und dem Herrschgewaltigen nur in vagen [p. xiv modifica]Andeutungen Opposition zu machen wagt, so greift das ladinische Rügelied den Toten mit leidenschaftlichem Hasse an.

Hierher gehört auch das schon im Band VI dieses Werkes veröffentlichte Lied über die Belagerung von Montalban; der Umstand, dass dieses Lied in Handschriften immer wiederkehrt, ist ein Beweis, wie man in den rätischen Tälern regen, ja leidenschaftlichen Anteil nahm an den Kämpfen der Religionsgenossen ausserhalb des Landes und selbst Bluts- und Stammesverwandtschaft darüber vergass.

Das Lied „von der Bündner Freiheit“, das uns in zahlreichen Varianten überliefert wurde, zeigt, wie bei dem auf seine Vergangenheit so stolzen Bündnervolke die Geschichte dazu dienen musste, in den alten die neuen „Tyrannen“zu bekämpfen und das Volk gegen Österreich - Spanien aufzureizen, während das Lied von Wilhelm dem Tellen dartut, wie jenes Band, das sich auf dem Schlachtfelde der Kalvenklause in den ersten blutigen Fäden um die drei Bünde und die alte Eidgenossenschaft geschlungen hatte, im 17. Jahrhundert einen neuen Einschlag erhielt.

Der Untergang des Marktfleckens Plurs, der wie ein erschütternder Zwischenakt der blutigsten rätischen Parteikämpfe zu den Greueltaten der Menschen noch die Schrecknisse der Natur gesellte, hat in zwei Liedern (vgl. Bd. VI p. 164 — 171) bewegten Widerhall gefunden.

Wenn sich in solchen historischen Volksliedern nicht bloss die bewegte Zeit, sondern auch jener kühne und gewaltige Geist des freien Bauernvolkes widerspiegelt, so wurde mit dem Niedergang des rätischen Freistaates in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts das historisch - politische Lied unbedeutender; man begnügte sich, diesen und jenen tapferen Offizier zu besingen, der unter fremder Fahne bündnerische Soldaten anführte, wie jenen Herkules de Capaul, der bei Menin fiel. Allmählich musste das Kampflied dem Klagelied über schlechte Zeiten und böse Menschen Platz machen.

Zahlreich sind die Spott- und Rügelieder, wie denn auch die Schriftsteller aus dem 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, die über Graubünden schrieben, es nicht unterliessen, auf die Neigung der Rätoromanen zur Satyre hinzuweisen. Da aber diese Lieder allzu sehr das Gepräge des Persönlichen und Lokalen an sich tragen, mag es an nur wenigen Proben genügen.

Wir glaubten auch ein Lied da bacharia geben zu müssen, das von möglichst vielen Nachbarn während des Fleischhackens und Fleischwiegens am breiten Stock gesungen wurde. Das alte Lied: „L’otra saira a bacharia“, nach dessen Melodie so viele Volkslieder gingen, konnte leider bis jetzt nicht aufgefunden werden. [p. xv modifica]

Lieder, die wir wie einen düsteren Vögelzug von Weissrussland bis nach Korsika hinunter verfolgen können, finden sich naturgemäss auch im ernsten, einst so einsamen Hochtal und zählen zu den ältesten; es sind die Klagelieder um die Toten. Nicht selten bricht der Schmerz in urwüchsiger Wildheit hervor, aber die Glaubensfestigkeit mildert das herbe Leid.

Den bewährten Führern Grundtwig und Child folgend, haben wir alle uns zugänglichen Varianten eines Liedes vollständig wiedergegeben; denn nur so wird es möglich, das vollständige Material zur Kenntnis eines Liederstoffes und der verschiedenen Bearbeitungen desselben zu geben.

Von den Sprichwörtern haben wir nur jene gegeben, die nach Inhalt oder Form Engadiner Eigengut sind, mit Ausschluss des Übersetzten und Entlehnten. Besondere Aufmerksamkeit haben wir dabei den Rechtssprichwörtern geschenkt, die in reicher Fülle vorhanden sind. Das letztere wird uns nicht überraschen, wenn wir uns daran erinnern, dass der Freiheitskampf der Rätoromanen sich eigentlich zum Kampf um „das eigene Gericht“ zuspitzte.

Dankbar gedenken wir hier unserer Vorgänger, deren Sammlungen wir so reichlich benutzt haben. Es sind Alfons von Flugi, der hochbegabte Dichter, dem es vorbehalten war, mit dem feinsten Sinn und sichersten Takte das Schönste aus dem Garten der romanischen Volkslieder zu einem einzigen Strausse zu binden; der kunstsinnige Dichter Peider Lansel, der die Sammlung Flugis mit sorglicher Hand und begeisteter Liebe fortgesetzt; Andreas Vital, der mit unermüdlichem Sammelfleisse und glücklichstem Erfolge eine unvermutet reiche Garbe vor dem drohenden Untergange gerettet hat. Hier sei auch Florian Grand genannt, dem wir eine zusammenfassende und die Eigenart des romanischen Volksliedes glücklich charakterisierende Studie zu verdanken haben.

Vorliegenden Band widmen wir der Jugend des Engadins und wir hoffen, dass das alte Volkslied hier wie bei so manchem kleinen Volke der Jungbrunnen neuen Lebens werden möge.

Ms. Pont.

Papierhandschrift in fol.°, Format der alten Rechnungsbücher, zählt 18 Blätter, in einem neuen Einbande.

Auf fol. 15b findet sich die Jahreszahl 1728 a 26 Agt Pontresina, auf fol. 18b die Notiz: 30 Agosto Phontrasina Chamsuns mundemas schritas tras me wo el Cherchia Chi Cha Le Chi ais paraint da vo d’ chata.

Enthält Volkslieder und am Schlusse zwei italienische Lieder: Canzoneta sopra il dragon und La resposta del Dragon.

In der Kantonsbibliothek.

Daraus abgedruckt: 2a, 9, 10, 11a, 12a, 16a, 19a und 20. [p. xvi modifica]

Ms. Cad.

Ein einzelnes Blatt aus einer Liederhandschrift.

Enthält nur das Lied Nr. 57 und den Anfang des Liedes Nr. 9.

Im Besitze des Herausgebers, geschenkt vom Dichter Fadri Caderas. Ms. And. Papierhandschrift in fol.°, Format der alten Rechnungsbücher, zählt 16 Blätter.

Auf fol. 1a findet sich die Notiz: Año 1678 adi 10 Jennary ais quaista tinta fatta aint et ais bain gratiada chia Deis am detta agüd chia possel imprendar bain à scriver cun quella, auf 12b die Jahreszahl 1678.

Enthält romanische Volks- und Kirchenlieder.

Im Besitze des Herausgebers.

Daraus abgedruckt Nr. 60.

Ms. Ss.

Papierhandschrift in 8°, 26 Blätter in einem modernen blauen Kartonband. Enthält sur- und subselvische Volks- und Kirchenlieder. Fol. 15b — 16b: Üna Canzun dilg Prophet Da las ligias Sa conta en ilg Miedi: Carstiaun chei taulzas. Ent ilg oñ 1803 ils 26 januarij.

In der Kantonsbibliothek.

Daraus abgedruckt: Nr. 130.

Ms. Mlo.

Papierhandschrift des XVIII., 8°, Jahrh., in farbigem Umschlag, alles von der gleichen gewandten Hand geschrieben.

In der Kantonsbibliothek.

Daraus abgedruckt Nr. 143 und 144.

Ms. Lum.

Papierhandschrift in 8°, gebunden, 45 Blätter, von der gleichen Hand.

Fol. 1a — 25b enthalten die Lieder Nr. 167, 168, 169 und 170, fol. 26a — 28b: Plaunt dün Pchieder, 29a — 30b: Üna otra bella Canzum, fol. 31a — 45b leer.

In der Kantonsbibliothek.


  1. In den Anmerkungen zu den Volksliedern, die in Band X erscheinen, geben wir zu einer Anzahl die fremdländischen Originale.
  2. Romancero de Champagne, par M. Tarbé t. II., p. 127. Romania, XIII., 434. Guillon, Chans, pop. de l’Ain, 91. Gérard de Nerval, Les filles du feu, La Bohème galante. Annuaire des trad. pop. II, 46. Mémoires de la Société d’emulation de Cambrai, t. XXVIII, p. 276. E. Rolland, Rec. I., 266. II., 149.
  3. Costantino Nigra, Canti popolari del Piemonte, p. 382 — 385.
  4. F. P. Briz, Consons de la terra, III, 111. Milá, Romancerillo, 175.