Pagina:Decurtins - Rätoromanische chrestomathie, XII.djvu/18

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X Einleitung


Im März des Jahres 1875 bestand Decurtins seine Gymnasialmatura und schon kurz darauf am 18. April hält er in der Societad Raetoromonscha von Chur ein Referat „La canzun populara dils Rhaetoromonschs“. Trotzdem der junge Redner damals bloß 20 Zuhörer hatte, weckte seine Mitteilung, daß er bereits etwa 500 Volkslieder gesammelt habe, reichen Wiederhall und größtes Staunen; denn niemand wagte von solchen Schätzen romanischer Oral - Literatur auch nur zu träumen1. Diesen Vortrag, welchen wir durch Zufall bei Herrn Dr. med. Tuor in Ilanz auffanden, haben wir in diesem Bande S. 286 — 312 pupliciert. Um Wiederholungen zu vermeiden, die großen Raum beansprucht hätten, haben wir die Lieder nicht abgedruckt, sondern nur auf die betreffenden Stellen der früheren Bände der Chrestomathie verwiesen. Der Satzbau des Vortrages ist ganz deutsch und äußerst merkwürdig ist auch die oft geistreiche Art, wie er das ungepflegte rätoromanische Idiom zwingt dasjenige zu sagen, was er will. Seine späteren Schriften und Reden in romanischer Sprache offenbaren den gleichen Charakter und Mangel; aber der Sturm seines Vortrages, das herrliche Organ, die imposante Statur, die filmartige Aufeinanderfolge der Bilder seiner genialen Redegewandtheit, die nie anstieß, täuschte die Zuhörer über solche grains de beauté vollständig hinweg.

Im Jahre 1876 erschienen in den „Romanischen Studien“Bd. II S. 99 — 155, herausgegeben vom Straßburger Professor Böhmer, einige Märchen von Decurtins in romanischer Sprache erzählt. Böhmer, der ein Spezialkolleg über rätoromanische Grammatik las, hatte großen Einfluß auf den strebsamen jungen Mann, der ihm später Worte größter Anerkennung widmete. Im gleichen Jahre wurde Decurtins mit der Redaktion der „Monatrosen“, Organ des Schweizerischen Studentenvereins, betraut und veröffentlichte in diesem Blatte die Biographie des „Landrichters Nicolaus Maissen 1621 — 1676“2. Dieser Aufsatz über jene vielumstrittene Kraftgestalt der rätischen Geschichte wuchs über den Rahmen einer gewöhnlichen Lebensskizze hinaus und wurde zu einem bedeutenden Stück Geschichte der Abtei und des Hochgerichtes Disentis. Die Tragik dieses Lebens blendete ihn, daß er wohl etwas zu dunkle Schatten auf jene granitne Charaktergestalt stürmischer Zeiten fallen ließ. Unter den Beilagen, die der Arbeit hinzugefügt wurden, finden sich mehrere sehr alte, romanische Schriftstücke.

  1. Annalas I, Chur, Druckerei Gengel, 1886 S. 28. Gasetta Romontscha Disentis 1875 Nr. 17. Patriot 1875, Chur, Nr. 17.
  2. Monatrosen, Jahrgang 1876/77 S. 345.