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Mit Recht ist die Menschheit stolz auf dieses Diadem, in welchem die Naturwissenschaften einen Streifen bilden von strahlenden Edelsteinen und unter diesen die Physik im Zentrum, als einer der strahlendsten und edelsten. Ihr Gebiet ist die Welt der todten Materie; aber sie macht nicht Halt vor der lebenden Materie und nur das Leben selbst und die Vorgaenge, die allein das Leben hervorruft, ueberlaesst sie ihren Nachbarn, den biologischen Wissenschaften.

Riesengross ist das Heer von Erscheinungen, welche die Physik entdeckt, studiert und zu erklaeren versucht hat; alljaehrlich erweitert sich ihr Gebiet und staunend hoert der Einzelne von den neuen Entdeckungen, den aufgefundenen Gesetzen, den kuehnen, umwaelzenden Ideen und den wunderbaren technischen Anwendungen, die der Kultur ihr charakteristisches Gepraege geben und ihr neue Wege eroeffnen. Es waere zwecklos Einzelnes aus den Fortschritten der letzten Jahre hier anzufuehren ; das Wichtigste ist ja allbekannt und nicht ein Einzelnes ist der Gegenstand unserer Betrachtung, sondern eine sehr allgemeine Frage, die unabhaengig ist von dem augenblicklichen Inhalt unserer Wissenschaft.

Dieser Inhalt der Physik besteht aus zwei Teilen, von denen der erste in hohem Grade sicher und unzweifelhaft, der zweite aber in ebensolchem Grade unsicher und zweifelhaft ist.

Der erste Teil handelt von den beobachteten Tatsachen, von den qualitativen und quantitativen Verhaeltnissen, die in den physikalischen Erscheinungen zu Tage treten, also von den Kegeln und Gesetzen, denen diese Erscheinungen unterworfen sind. Die Zahl dieser Regeln und Gesetze ist sehr gross. Die meisten beziehen sich immer nur auf einen sehr kleinen Kreis von Erscheinungen spezieller Art; doch giebt es eine, wenn auch nicht grosse Anzahl, die einen sehr hohen Grad von Allgemeinheit besitzen und mehr oder weniger fast saemmtliche physikalischen Erscheinungen beherrschen.

Der zweite Teil der Physik handelt von den Versuchen, die uns bekannten physikalischen Erscheinungen durch gewisse hypothetische Vorstellungen unter einander zu verbinden, das Faktum ihrer Entstehung und die Regeln und Gesetze, denen sie unterworfen sind, als logische Notwendigkeit aus jenen Vorstellungen abzuleiten. Handelt also der erste Teil von dem, was auf der fuer uns offenen Buehne der physikalischen Erscheinungswelt vorgeht, so ist es die Aufgabe des zweiten