Pagina:Decurtins - Rätoromanische chrestomathie, IX.djvu/8

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X Einleitung.


Zum ältesten Bestandteil unseres Liederschatzes kann auch das Streitlied zwischen Wein und Wasser gezählt werden, das uns Campell aufbewahrt hat und das sicher ein paar Jahrhunderte älter ist, als Campells Aufzeichnung, der offenbar alles weggelassen hat, was an den alten Glauben erinnerte.

An verschiedenen Stellen haben wir uraltes Erbgut unserer Volkspoesie, von einer allzu klugen und kalten Zeit in die Rumpelkammer des Kinderliedes verwiesen, an den alten Ehrenplatz gestellt, den es früher im religiösen und sozialen Leben einnahm.

Ähnlich dem Märchen geht der Stoff der Balladen von Land zu Land, von Volk zu Volk; in der Behandlung des nämlichen Erzählungsstoffes bei den verschiedenen Völkern spiegelt sich die nationale Eigenart wieder, die den Liedern den eigentlichen Charakter verleiht. Echt rätisch ist jenes Lied, das uns von den treuen Lieben erzählt, die nicht voneinander lassen und die, wenn sie im Leben getrennt waren, im Tode vereint werden. In der verstümmelten Gestalt, wie das Lied „o mama chara“uns im Ladinischen und Surselvischen überliefert wird, ist dasselbe ziemlich unverständlich. Offenbar bedeutet der Trunk, der sonst ganz unmotiviert wäre, einen Verlobungstrunk oder einen Trunk zum Zeichen geschlossener Ehe. Noch das statutum synodale Andegavense erwähnt die falsche Meinung, die Ehe werde abgeschlossen, indem die Brautleute gemeinsam aus einem Glase Wein trinken; und Polydorus Virgilius erzählt: „Sponsa apud Anglos postquam benedixerit sacerdos in templo, incipit bibere, sponso et reliquis adstantibus idem mox facientibus“. Wir denken uns, das Lied erzählte ursprünglich, wie der Geliebte in dem Augenblick ankommt, da die Braut einem anderen angetraut wird; ob des traurigen Wiedersehens sterben beide gebrochenen Herzens und werden nebeneinander begraben und aus ihrem Grabe wachsen Blumen, die sich umschlingen, „weil die beiden einander so lieb gehabt“. Die oberländische Form steht dem Original näher als die ladinische; dort haben sich noch die rote Rose und die weisse Lilie erhalten, während sie, wohl um des Reimes willen, in der ladinischen Form durch die Kamillenblüte und die Muskatnuss ersetzt werden.

Ladinisch hat sich auch eine alte Form des Liedes: „O bab, bab“erhalten; hier ist es noch das Schlossfräulein, von dem berichtet wird, wie es von Knechten und Mägden Abschied nimmt, ehe sie gezwungen heiratet und dem ungeliebten Manne die Hand reicht. Die Vermutung, die wir in unserer Vorrede zu den oberländischen Volksliedern ausgesprochen haben, das Lied gehe in das Mittelalter zurück, scheint somit begründet zu sein; wir haben hier eine Gestalt des Liedes vor uns, wo