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Einleitung.
Wenn die Volksseele sich nirgends so scharf ausprägt wie in Sage und Lied, Märchen und Kinderspruch, so sind wir froh überzeugt, mit diesem Bande unseres Sammelwerkes ein wertvolles Stück des ureigenen rätoromanischen Volkstums bieten zu können.
Wie bei jedem gesunden Volke nimmt auch an den Ufern des Inns das Liebeslied einen ausgedehnten Raum ein, sowohl das ernste Lied von Treue und Untreue, als der leichte Sang jugendlichen Übermutes.
Im Banne des traditionellen Bildes, in dem die Jugend ein blühender Garten ist, begrüsst auch das ladinische Volkslied die Geliebte als weisse Rose, als rote Nelke, als Lilie in Ehren und wird nicht müde, die treue Liebe immer wieder zu preisen. Nicht ohne leise Schalkheit und zarte Schicklichkeit weiss das Lied, wo es vom Liebesapfel spricht, goldene Hoffnungen vorzuzaubern. Aber auch der schrille Ton gebrochener Treue tönt erschütternd durch manches Lied: die Sonne verfinstert sich, der Mond kleidet sich in Trauer, die Sterne fallen und die Wasser stehen still ob der bösen Tat der Untreue. Und hier klagt eine Maid, die einem Ungeliebten die Hand reichen muss, ihr heimlich Herzeleid; sie kann nimmer lustig sein, sonst bräch’ihr das wunde Herz entzwei, noch darf sie klagen, was sie drückt, sonst wär’es für den Bräutigam ein zu grosser Schmerz. Dort aber begegnen wir dem entschlossenen Mädchen, das trotz allen Zwanges den hässlichen Alten zurückweist; und wir begegnen dem Burschen, der vor die Wahl gestellt ist, der unschönen Reichen oder der hübschen Armen die Hand zu reichen, aber das klare Wasser aus dem Quell dem herben Wein aus dem geschliffenen Glase vorzieht.
Aus einer Zeit stammend, da man feierlichen Worten eine geheimnisvolle Kraft beimass, also wohl ursprünglich ein Wunsch- und Zaubersang ist jenes Lied, das vom Knechte erzählt, der mit der Sonne aufsteht, um die Geliebte zu gewinnen, die sich nacheinander in eine Rose, ein Körnlein, eine Gemse, einen Engel verwandelt, aber vom Geliebten in den gleichen Gestalten allüberallhin verfolgt und endlich gewonnen wird. Es