Pagina:Decurtins - Rätoromanische chrestomathie, IX.djvu/4

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VI Einleitung.

ist jene alte Weise, die von Volk zu Volk wandert und in der Fassung des Magali - Liedes in Mireio wohl am bekanntesten geworden ist. Mit dem Liebeslied berührt sich das bei den Engadinern so gepflegte Lied vom Scheiden und Meiden; es schildert uns den tiefen Schmerz, den die Trennung vom geliebten Tale bereitet. Wohl wenige Abschiedslieder können sich an Tiefe der Empfindung und dichterischem Ausdruck mit dem Liede vergleichen, in dem der Jüngling beim Morgengrauen von jedem, der ihn sieht, Abschied nimmt und aus dem Geläute heraushört, wie die Glocken alle mit ihm klagend klingen, mit ihm, der dann entschlossen … seinen herben Schmerz hineinwirft in des Bergsees Tiefe. Ein glücklicher Fund (Ms. Pont.) macht es uns möglich, den Einfluss des italienischen Liebesliedes des 16. und 17. Jahrhunderts auf das ladinische Volkslied zu verfolgen.

Ein Pflanzgarten des Volksliedes war die Spinnstube (tramelg); die Spinnerinnen und die Burschen liebten es, ein Lied anzustimmen und einmal angefangen, wurde das Füllhorn bekannter Volkslieder von der sangesfrohen Dorfjugend mehr oder weniger ausgepflückt und wohl auch gelegentlich bereichert. Wie sich Zeiten und Sitten, Trachten und Waffen änderten, zeigten sich die Spuren der kulturellen Entwickelung auch an den Liedern. Aber die Balladen, die besten Liebeslieder, die Spott- und Rügelieder haben sich erhalten, seit den Tagen, wo Campell gegen sie als schändliche Lieder eiferte. Gerade die ältesten Lieder finden sich in allen rätoromanischen Mundarten, finden sich in fast gleichem Gewande an den Quellen des Rheins wie im Engadin, was Gaston Paris in seiner Besprechung der Sammlung von Flugi mit dem ihm eigenen divinatorischen Blick richtig erkannt hat.

Es gab immer Männer und Frauen, meistens solche, die selbst neue Worte und Weisen fanden, die eine grosse Anzahl von Gesängen aus dem Gedächtnis vortragen konnten; auch die Blinden und Armen, die, Almosen heischend, von Dorf zu Dorf zogen, waren häufig Träger und Verbreiter der Lieder. Wenn das Volk öfter ein Lied, das ihm zu lang war, kürzte, so wollten diese Sänger nicht selten die Lieder verlängern und ausschmücken, nahmen auf ganz willkürliche Weise einzelne Strophen von einem Lied in das andere herüber, ja verknüpften auf sinnlose Art Lied mit Lied.

Fragen wir nach dem Ursprung der Volkslieder, so finden wir nur wenige Andeutungen. Während Ton und Haltung einiger Lieder auf Frauengemüt und Frauenmund hinweisen, bekennt sich „ein junger Mann, der Federn am Hute trägt“, „ein schmucker Bursche“, „einer der imstande ist, über die ganze Welt dahinzuspringen“, als Verfasser eines Liedes.