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wicklung des Staatswesens befasste. Doch im Alpenraum konnte die Volkskunde auch staatliche Fragen aufgreifen, zum Beispiel indem sie «die entscheidende Bedeutung der alpinen Hirtenkultur für die Entstehung und die Eigenart der Eidgenossenschaft» nachwies, wie Richard Weiss 1945 in einem damals fortschrittlichen Grundriss festhielt.21 In der Nachkriegszeit hat sich die schweizerische Volkskunde dann stark geöffnet. Dies lässt sich an den Studien von Arnold Niederer nachvollziehen, die viele Fragen des Alpenraums behandeln und von soziologischen und anthropologischen Theorien beeinflusst sind.22 Dass die Öffnung parallel zur Öffnung der historischen Disziplin verlief, zeigt sich in exemplarischer Weise am Werdegang von Rudolf Braun. Als Volkskundler ausgebildet, ist er zu einem wichtigen Promotor der Sozialgeschichte in der Schweiz geworden, der auch Studien zum Berggebiet verfasst und angeregt hat.23 Durch ihr Interesse für die Kultur der breiten Bevölkerung hat die Volkskunde Themen der aktuellen historischen Forschung vorweg ge nommen und dabei Erhebungen durchgeführt, die mittlerweile zu historischen Quellen geworden sind. Dass die konservativen Projektionen und Illusionen ihrer frühen Vertreter keine geeigneten Referenz-punkte sind, muss vielleicht nicht mehr besonders betont werden.

Die Alpen sind ein Raum, der nach geographischen Kriterien abgegrenzt ist, und bilden auch in der Schweiz seit langem ein bevorzugtes Forschungsfeld der Geographie. Sie verfügt über ein ausgesprochen weites Spektrum von Interessen zwischen Natur- und Kulturwissenschaften, so dass Verallgemeinerungen über das Fach eine geringe Aussagekraft haben. Bezeichnend für viele Studien ist aber die bewusste Nähe zur praktischen Politik und Verwaltung, mithin ihr technischer oder normativer Charakter.24 Geographische Ausführungen zur alpinen Geschichte leiden aus diesen und anderen Gründen nicht selten unter spezifischen Mängeln. Den Historikern (aber auch etlichen Geographen) fällt der ungenaue Umgang mit der Zeitdimension auf: Wenn man die Vergangenheit zu einem Block zusammenfasst, um sie geschlossen mit der Gegenwart zu konfrontieren, lässt sich die Frage nach Wandel- und Kontinuitätserscheinungen nicht wirklich untersuchen.25 Entsprechend ihrer Position innerhalb der Wissenschaften hat sich die Geographie auch viel häufiger mit dem Einfluss der alpinen Umwelt auf Mensch und Gesellschaft beschäftigt als mit anderen historischen Faktoren oder mit dem umgekehrten Einfluss von Mensch und Gesellschaft auf die Umwelt. Dies könnte sich allerdings in absehbarer Zeit ändern, denn die aktuelle Umweltdiskussion scheint die Problemstellungen zu verschieben. Seit ein paar Jahren hat die Schwei-


MATHIEU: ALPENDISKURS UND HISTORISCHE FORSCHUNGSPRAXIS IN DER SCHWEIZ 53