Histoire des Alpes - Storia delle Alpi - Geschichte der Alpen (1996)/07
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ALPENFORSCHUNG AUS SICHT DES HISTORIKERS
Roger Sablonier
La «recherche sur les Alpes» vue par un historien
Die Erforschung vergangener Lebensverhältnisse im alpinen Raum hat in der Schweiz und auch in ändern Alpenländern eine lange Tradition.1 Sie als Alpen-forschung zu bezeichnen, kann aus pragmatischen Gründen sinnvoll sein, wenn darunter einfach eine (mehr oder minder klare) räumliche Begrenzung des Forschungsgegenstandes verstanden wird. Nicht akzeptierbar ist es, damit eine geschichtliche Einheit alpenländischer Entwicklung zu suggerieren, die in erster Linie den dominanten Wirkungen spezifischer naturräumlicher Voraussetzungen zuzuschreiben wäre. Die historische Besonderheit des Alpenraums ist nicht einfach zu postulieren, sondern erst noch zu ermitteln, und die Frage nach dem tatsächlichen relativen Gewicht alpiner Lebensumstände zum
Beispiel in der Ausgestaltung sozialer Organisation ist nach Ort und Zeit sehr differenziert und nicht nur im inneralpinen Vergleich zu untersuchen. Im schweizerischen Raum, in dem sich vom 18. zum 20. Jahrhundert staatsideologisch und folkloristisch stark überhöhte Vorstellungen von «alpiner Besonderheit» herausgebildet haben, ist diese methodische Vorsicht in besondererWeise angebracht.
Für eine moderne historische Forschung sind die Pluralität der Interessen und Themen sowie sehr breite methodische Spielräume konstitutiv. In jedem Falle stehen aber die gesellschaftlichen Bezüge menschlichen Handelns im Zentrum. Abläufe und Entwicklungen in der Zeitdimension festzumachen, die Frage nach Wandel und Kontinuitäten auf verschiedensten Ebenen zu beantworten, dabei das ständige Wechselspiel von individuellem und kollektivem Handeln im Detail zu analysieren, das sind prioritäre Anliegen aller Bemühungen um die bessere Kenntnis der Vergangenheit. Konkret bildet Alpenforschung aus meiner Sicht eine Möglichkeit zur vergleichenden Erforschung regionaler Gesellschaften. «Gesellschaft» wird hier verstanden als ein jeweiliges Ensemble von systemhaft verknüpften politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturell-mentalen Phänomenen. Diese Ausrichtung entspricht auch dem heutigen Schwerpunkt historischer Arbeiten zum Alpenraum aus unseren Nachbarlän dern, insbesondere aus Frankreich und Italien.
Das Stichwort «Soziodiversität» spricht eine Fragestellung an, die Alpenforschung in besonderem Masse attraktiv macht. Damit ist nicht in Anlehnung an Biodiversität eine normative Vorstellung über «Erhaltenswertes» im Bereich des Gesellschaftlichen gemeint. Kulturelle und soziale Vielfalt ist nicht nach biologischen Gesetzmässigkeiten zu beurteilen, und die Feststellung von (wenn auch vielleicht «positiver») Rückständigkeit ist ebenso fehl am Platze wie eine unkritische Nostalgisierung «ursprünglicher» und «überschaubarer», also eben nicht modernisierter Lebensverhältnisse. Dennoch: Ohne Zweifel war und ist im Alpenraum die Vielfalt der «Soziotope» besonders ausgeprägt, also eine grosse Zahl von Varianten lokal und kleinregional unterschiedlicher Strukturen und Problemlösungen für das wirtschaftliche, soziale und politische Zusammenwirken von Menschen vorhanden.
Im Kontext einer Kooperation mit Naturwissenschaften ist ein spezifischer Aspekt dieser allgemeinen Diversität von speziellem Interesse: Gerade für die Gestaltung des Verhältnisses zwischen sozialer (und politischer) Organisation und Nutzungsumwelt bzw. «Natur» oder naturräumlichen Gegebenheiten sind im Alpenraum auf kleinstem Raum, sozusagen von Tal zu Tal oder gar von
Flur zu Flur, ganz unterschiedliche Formen, Optionen und (dezentrale) Lösungen zu beobachten und zu erforschen. Umgekehrt und gleichzeitig ist im Alpenraum auch - etwa durch Tourismus- und Energiewirtschaftsinteressen - der Akkulturationsdruck von aussen (und von innen) her besonders stark spürbar. Die Auseinandersetzung um die eigene Identität der alpinen Bevölkerung ist entsprechend heftig, im übrigen ein jahrhundertealtes Phänomen und auch des halb von grösstem Interesse für die historische Analyse.
Nutzungsformen und Siedlung, Boden, Verkehr und Transit, Migration, ökonomische Dependenzen und Komplementaritäten, Wahrnehmungsformen, Mentalitäten und politische Meinungsbildung: auf einer mittleren Abstraktionsebene gibt es zahlreiche Themen, die einer inter- oder zunächst besser pluridisziplinären Erforschung bedürfen. Erfordernisse und Schwierigkeiten der interdisziplinären Zusammenarbeit sind bekannt. Unabdingbare Grundkenntnisse über je spezifische Methoden und Erkenntnisinteressen, auch über je eigene Forschungs- und Informationsdynamiken der jeweiligen Disziplinen sind auch unter Geschichtsforschenden vielfach sehr schmal.
Zu wenig auch ist es bisher der Geschichtsforschung gelungen, ihre grundsätzlichen Ziele, Interessen und Funktionen in der fachübergreifenden Diskussion deutlich und verständlich zu machen. So ist die von Naturwissenschaftlern in der Zusammenarbeit häufig zuvorderst nachgefragte Produktion von «harten Fakten» und «historischen Beweisen» als Grundlagenmaterial in Teilbereichen wie beispielsweise bei quantifizierbaren Aspekten der Klima- und Bevölkerungsgeschichte zwar (erfolgreich) geleistet worden, in zahl reichen anderen, für die Geschichte trotzdem interessanten Bereichen aber sicher nur sehr punktuell oder überhaupt nicht zu erbringen. Eine solche Produktion entspricht aber gar nicht der Hauptfunktion von Geschichtswissen, besonders wenn es um weiter zurückliegende Epochen geht. Diskussion und Vermittlung von fachhistorischen Forschungsresultaten zielen letztlich weniger auf Bereitstellung von Faktenwissen über allfällige Nachwirkungen vergangener Zustände ab als auf die Erweiterung des kulturellen Orientierungswissens in Form struktureller Analogien. Das müsste in der Zusammenarbeit noch deutlicher vermittelt werden.
Allerdings, und nach den genannten Einschränkungen darf dieser Hinweis doch auch noch angeführt werden, sind Geschichtsforschende manchmal schon etwas erstaunt über historische Argumentationen, wie sie etwa in der Siedlungs- und Migrationsforschung, in der Raumplanung oder auch in der Agrarökonomie immer dort zum Zuge kommen, wo von Entwicklung die Rede ist. Vom fach-
wissenschaftlichen Angebot an Quellenkritik und Vergleichskenntnis wird dabei oft wenig Gebrauch gemacht. Das für alle relevante Informationspotential der Geschichtsforschung (im übrigen auch von sprach-, literatur- und rechts-geschichtlicher Seite) ist noch längst nicht ausgeschöpft. Gerade für die dringenden gemeinsamen Anliegen einer stärkeren Praxisorientierung und einer besseren Berücksichtigung von WahrnehmungsVorgängen könnten geschichtliche Kenntnisse vieles erbringen.
Anmerkung